Der Circo Fantazztico - Abschaum und Artisten

Wir assen gerade Mittag mit Edits Familie, als mir unsere Gastgeberin ihr Telefon in die Hand drückte. Roland Spendlingwimmer wolle mit mir sprechen. Roland ist einer der Initianten der Longo Mai. Der Chef sozusagen. Und ein Initiant des Circo Fantazztico. Das Projekt in San Isidro – unser seit langem angestrebtes Ziel.

«Am besten treffen wir uns am nächsten Dienstag im Park von San Isidro.» Als ich ihn fragte, wie ich ihn erkenne, meinte Roland, er sei 71 Jahre alt und trage einen Sonnenhut. «Wir treffen uns um zwanzig vor zehn.» Ich traute mich dem Österreicher zu sagen, dass ich immer pünktlich bin.

Mit Nathan in den Zirkus

Dienstags setze ich Nathan auf das Schattenfahrrad und fuhr los. Nach knapp 40 Kilometern erreichten wir um zwanzig vor zehn pünktlich unser Ziel. Klar, der Österreicher kam zu spät. Nathan löcherte mir während wir warteten Fragen über den Zirkus in den Bauch. Ob es dort Tiere habe und ein Zelt. «Ich glaube nicht.“ Wie erklärst du deinem Sohn am besten, dass die Artisten des Circo Fantazztico Jugendliche aus Slums und Vororten sind, an die sich kein Tourist verirrt. «Die machen fantastisch Kunststücke. Saltos und Sprünge.» Erklärte ich Nathan.

Zirkus ohne Zirkuszelt

Roland Spendlingwimmer kam geschlagene zwanzig Minuten zu spät. Grinsend entschuldigte er sich und meinte, dass er diesmal nicht ganz pünktlich sei. Er sah aus wie ein zu gross gewachsener, lieber und vor allem sympathischer Opa. Wir wechselten drei Worte und dann brachen wir auf.

Er in seinem bunten Hippie Bus, der sicher älter war, als er selbst. Und wir mit unseren Fahrrädern hinterher. Ein paar hundert Meter weiter waren wir da. Zirkuszelt? Nein. Vor uns stand ein umfunktioniertes Haus. Ein Jugendtreff in einem baufälligen Gebäude, das keiner mehr braucht. Ausgestattet mit einem grossen Aufenthaltsraum, einer Küche und Schlafräumen. Da schliefen die Freiwilligen aus Europa.

Die Artisten

Die Freiwilligen aus Europa besuchen den Circo Fantazztico für ein paar Monate oder für ein Jahr. Und sie leben da – in diesem Jugendtreff – und absolvieren ihren Zivildienst, machen ein Praktikum für Ihr Studium oder helfen mit.
Die Freiwilligen aus Europa – die meisten waren ziemlich jung – bereiteten alles vor und wuselten herum. Nathan fand seine deutschen Kollegen und verwickelte sie in endlose Gespräche. Die meisten Jugendlichen aus San Isidro kamen gegen 11 Uhr. Ganz im Stil des Österreichers. Das Training fängt immerhin erst um 10 Uhr an.

Die Geschichte des Circo Fantazztico

Roland sass ein bisschen Abseits und beobachtete das Treiben. Er wirkte mitten im bunten Trubel wie ein ruhender Pol. Ich setzte mich zu ihm und stellte ihm allerlei Fragen über den Zirkus. Er erinnerte sich an früher und erzählte mir, wie alles begann. Er habe in Österreich auf der Longo Mai gelebt.

Und der Wechsel in ein warmes, tropisches Land sei für ihn grossartig gewesen. Die Natur, die Wärme und vor allem die Möglichkeit mehrmals im Jahr zu ernten. Das habe ihm gefallen. Der Bauer Roland war im Glück. Und hier in Costa Rica startete er dann 1996 das Projekt Circo Fantazztico.

Die Strassenkriminalität nahm damals zu und immer mehr Jugendliche zogen heimatlos durch die Strassen von San Isidro. Der Zirkus sollte helfen die Jugendlichen von der Strasse zu holen, ihnen Perspektive und einen Wert zu geben.

Der Circo Fantazztico heute

Mehr als 20 Jahre später ist der Circo Fantazztico eine Nummer. Die Top Artisten spielen in derselben Liga wie einige der grössten Artisten in den Zirkussen der Welt. Viele andere schafften durch den Zirkus die Kurve in ein normales Leben.

Mit dem Circo Fantazztico gehen die Jugendlichen jährlich auf Europatournee. Dort präsentieren sie die fantastischen Resultate des harten Trainings. Sie zeigen, was sie – die Jugend aus den Vororten von San Isidro – drauf haben. Diese Jugendlichen, die vor ihrer Zeit bei dem Circo Fantazztico aus Geschäften oder Lokalen geschmissen wurden. Die, die niemand wollte. Die, die Ärger machten. Die machen dann eine grosse Tournee durch Europa.

Jugendliche Zirkusartisten

Wer sind diese Jugendlichen? Aufgeweckte Jungs und Mädchen um die 16 Jahre. Manche älter. Sie rissen die typischen Sprüche und Witze, die ein Teenager lustig findet. Sie alberten herum. Eine Mischung aus altklug und unsicher. Der ganze normale Pubertätswahnsinn.

Bis das Training losgeht. Dann entpuppten diese unscheinbaren Halbstarken ungeahnte Kräfte. Die Kunststücke, die sie übten waren High Level. Dahinter stand kein billiges Drehbuch. Sie wirbelten Körper und Gegenstände durch die Luft. Bewiesen Koordination, Kraft und Beweglichkeit auf hohem Niveau.

Und sie verhielten sich konzentriert und professionell. Kein ungestümes Imponiergehabe. Manche Figuren gingen sie im Kopf durch, um nichts zu riskieren. Ein erstaunlicher Wechsel zwischen herumalbernden Teenies und hellwachen Zirkusartisten beim Training.

Die Arbeit mit den Freiwilligen

Ich dachte mir: Sie trainieren nicht bloss für eine Show. Diese Jugendlichen trainieren für ihr Leben. Von den europäischen Freiwilligen schauen sie sich viel ab. Sie sind organisiert und strukturiert und beweisen Durchhaltevermögen. Und sie sind im selben Alter – die Jugendlichen vertrauen sich untereinander und schauen sich auf natürlich Weise vieles voneinander ab.

Vom verwahrlosten Kind zum Künstler

Mitten in der Jugendclique trainierte ein junger Mann. Ein Costa Ricaner, ein Tico, der – das erzählte mir Roland – von Kindesbeinen an mit dabei ist. Er hat Erfahrung und unglaubliches Talent. Im Trapez hing er kopfüber in den Tüchern, als wäre es das normalste der Welt und half einem Mädchen mit ihm die Figur zu üben. Mit endloser Geduld, gelassenen Worten und klaren Anweisungen. Er wies die Jugendlichen in Sachen Sicherheit an und ermutigte sie nach jedem Fehltritt. Früher war er ein verwahrlostes Kind.

Rolands Traum

Roland hielt gegen Ende selbst drei Keulen in der Hand und trainierte mit. Der 71 jährige Opa zwischen wilden Teenies. Er habe noch viele Ideen und diese wolle er verfolgen. Sein Ziel sei es, noch mehr jungen Menschen eine Chance zu geben. Eine Chance für Jugendliche aus einer Lebenssituation, die in Costa Rica nicht zu unterschätzen ist. Was Roland antreibt, frage ich gar nicht. Es ist offensichtlich – Er hat das Herz am rechten Fleck. Da macht es auch nichts, dass er mit drei Keulen nicht besser als Nathan jonglieren kann.

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