Eine Familie auf Fahrradreise durch Europa

Wir fühlen uns als Familie, die mit Fahrrad um die Welt reist hin und wieder wie Aliens. Das änderte als wir Sergio und seine fünfköpfige Familie kennenlernten. Sie sind seit letzten April mit dem Fahrrad unterwegs und erzählen in einem Interview, wie das Durchtreten als Familie funktioniert.

Sergio, wer seid ihr?

Wir sind die Familie Sauter-Menzi, bestehend aus unseren drei Kindern Lou, elf Jahre alt, Pepe, neun Jahre alt und Uma seit kurzem sieben Jahre alt. Und Ruth, meiner Partnerin und mir Sergio. Ruth ist ausgebildete Primarlehrerin, Schneesport-Lehrerin und war die letzten acht Jahre zusammen mit mir als Zentrumsleitung im schönen Calancatal tätig. Ich habe die Ausbildung zum Primarlehrer auf dem zweiten Bildungsweg abgeschlossen, nachdem ich als Elektromonteur ein paar Kurzschlüsse fabriziert hatte. Zwischen Kurzschluss und Primarlehrer war ich selber als Schneesportlehrer tätig und durfte am Flumserberg für knapp zehn Jahre Mitinhaber einer eigenen Snowboardschule sein.

Warum seid ihr als fünfköpfige Familie auf Weltreise?

Das Gen vom Radreisen tragen wir schon lange in uns. Während Ruth bereits als Kind mit dem guten alten Dreigänger ans Mittelmeer fuhr, entdeckte ich das Fahrradreisen in den schneefreien Sommern. In denen strampelte ich halb Europa rauf und runter. Gemeinsam machten wir vor der Kinderzeit ebenfalls zwei grössere Radreisen, die dann leider etwas kürzer ausfielen, als ursprünglich geplant. Dies heute ist also nicht unsere erste Reise mit Fahrrad.
Ein Traum vor über fünf Jahren hat mir dann erneut den Virus einer Radreise mit Familie in den Kopf gesetzt. Die Kinder waren zu diesem Zeitpunkt jedoch zu klein, um selber zu fahren und bereits zu gross, um im Anhänger zu sitzen. Also träumten wir noch ein wenig, packten in Gedanken Fahrräder und warteten auf den richtigen Zeitpunkt. Und vor zwei Jahren, im Jahr 2015, entschieden wir uns definitiv, 2017 diesen Traum umzusetzen. Wir kündigten die Stelle und alles was dazu gehört.
Bis jetzt ist es eine Reise durch Europa. Ich denke, das wird so bleiben, da wir mit dem Fahrrad vorwärts kommen möchten und es hier noch viel zu entdecken gibt.

Wie plant man als Familie eine Reise mit Fahrrad?

Als die Entscheidung fiel, freuten wir uns als erstes auf alles Bevorstehende. Und dann war plötzlich klar, was Grosseltern, Götti und Gottis den Kindern auf Weihnachten und Geburtstag schenken konnten. Stirnlampen, Schlafsäcke, Fahrradtaschen. Alles Material, das wir auf der Reise brauchen, stand ab sofort auf den Wunschlisten.
Dann erstellten wir unglaublich viele Listen mit allem, was wir abklären müssen: Material, Auswahl von Fahrrädern, Kleidern, mögliche Routen und und und.

Natürlich kamen auch immer wieder einmal Zweifel hoch, weil viele unsere Entscheidung als «verrückt und unmöglich» empfanden. Die konkreten Abklärungen machten wir dann erst mit dem Messer am Hals ein paar Monate vor der Abreise. (Versicherungen, Schule, Wohnsitzwechsel, Fahrräder umbauen…)
Probepacken und Probefahrten machten wir gar nie und wir waren total untrainiert.
Unsere Zeit der Vorbereitung war am Ende ziemlich stressig. Haus räumen, Arbeitsstelle übergeben und zwei Monate vor unserem Abreisedatum kam noch mein Kreuzband- und Meniskusriss dazu. Ich wollte auf eine Operation verzichten, bis sich zwei Wochen vor dem Abreisedatum der Meniskus verklemmte. Eine Meniskus-OP war unumgänglich und so startete ich mit den Krücken unser grosses Fahrradabenteuer.
Nach den vielen mentalen Hochs und Tiefs während diesen zwei Jahren, konnte uns dieses Ereignis nicht mehr von unserem Traum abbringen.
Heute wissen wir, dass Fahrradfahren Seele und Körper gleichermassen heilt. Es geht uns allen sehr gut.

Das klingt abenteuerlich - wie war die erste Woche?

Es war klar für uns, dass wir nach der strengen Abschlusszeit zuerst einmal «Ferien» machen wollten. Meine OP machte dies dann sogar unumgänglich. Auf dem Elbecamping in Hamburg blieben wir für zwei Wochen und lernten unglaublich viele Menschen kennen. Heimweh?! Am Anfang nichts dergleichen. Muskelkater auch nicht. Die grösste Überraschung war der Regen und die Kälte im Zelt. Wir haben es überlebt.
Am geplanten Abreisetag von Hamburg weg, packten wir dann zum ersten Mal alles in die Taschen und waren erschrocken und zugleich erfreut, dass wir noch «freien Platz» in unseren Taschen hatten. Mit der geplanten Abreise wurde dann aber nichts, da es in Strömen regnete.
Die ersten Tage und Wochen gingen wir mit Tagesdistanzen zwischen 20 – 25 km bewusst gemächlich an. Einerseits durfte ich das Knie nicht überbelasten und zum anderen mussten wir uns alle an diesen Reise-Rhythmus gewöhnen. Und den Kindern wollten wir nicht an den ersten Tagen die Lust am Reisen mit Fahrrad nehmen.
Nach neun Monaten auf Reisen können wir sagen, dass sich das alles gelohnt hat. Jetzt fahren wir Tagesdistanzen zwischen 40 – 50 km. Es kann mal weniger und mal mehr sein.
Das Heimweh bei den Kindern kommt und geht. Meistens ist es verbunden mit Müdigkeit oder wenn es anstrengend auf dem Fahrrad ist. Oder wenn wir selber nicht genau wissen, wie es jetzt weitergeht. Am meisten fehlt dann den Kindern unsere Katze, die wir zu Hause liessen. Da wir aber unser «Zu Hause» auflösten, können wir gar kein richtiges Heimweh haben.

Wie funktioniert die Rollenverteilung?

Ruth: The Brain und Kartenleserin. Wir sind ohne GPS unterwegs und da braucht es immer wieder gute Orientierung, vor allem durch grössere Städte. Food Beschaffung, den Daumen auf der Zahnhygiene, Näherin, Kommunikatorin, mit dem richtigen Gespür im richtigen Moment.
Lou: Frohmut, Gehilfin beim Kochen, Naschtante, Familiensängerin und -tänzerin
Pepe: Bastler, Erfinder, Geschichten-Erzähler, Fragensteller, Abwaschmuffel, Mützenträger und beim Fahrradfahren immer vorne anzutreffen. Er fährt oft lieber ein Mountainbike, als ein Reisefahrrad.
Uma: Schnattertante von morgens bis abends am liebsten Non-Stopp, Trampelmaus, die mit ihrem 20 Zoll Rad alles selber fährt, Energiebündel und Nimmermüde.
Sergio: Mechaniker, Sherpa, Loch-Flicker, Kochmuffel, Ordnungs-Fetischist (aber nur im Zelt), Planer, Buchhalter, Onlineworker.

Wann wart ihr euch mit eurer Entscheidung sicher?

Wir zweifelten nie ernsthaft daran, dass wir eine falsche Entscheidung gefällt haben. Die vielen Begegnungen mit Menschen, die wunderbaren Landschaften und vor allem die häufige und echte Familienzeit zeigt uns täglich, dass wir «für uns richtig» entschieden haben. Es ist unser Weg, der für uns momentan stimmt. Dass es intensiv und streng und manchmal mühsam ist, macht gar nichts. Dann ist es umso schöner zu erleben, dass wir diese Reise gemeinsam meistern.
Diese Reise ist genauso, wie wir es uns einrichten. Wenn wir Erholung brauchen, erholen wir uns, wenn wir vorwärtskommen möchten, dann kommen wir vorwärts. Wenn wir Leute treffen möchten, dann treffen wir sie. Und wenn wir alleine sein möchten, dann wissen wir, wo wir hinmüssen.

Nicht alles, aber vieles, liegt in unseren Händen. Vielleicht haben wir auch einfach ganz viel Glück und Zufriedenheit in unserem Leben, egal was wir machen, und dürfen uns einfach bedanken und geniessen.

Was ist das Ziel eurer Fahrradreise?

Unser grösstes Ziel war, dass wir auf diese Reise gehen. Wir haben dieses Ziel erreicht. Alles was jetzt noch dazu kommt, ist Zusatz.
Wir reisen nicht mit einer Botschaft. Wir fahren unglaublich gerne Fahrrad, bleiben wieder einmal hängen oder machen Freiwilligenarbeit in spannenden Projekten. Dabei interessieren uns vor allem die Geschichten der Menschen.

Wie habt ihr euch als Familie verändert?

Die grösste Veränderung ist, dass die Kinder immer da sind. Vorher gingen sie in die Schule und waren ganztags weg, während Ruth und ich zu Hause blieben und da arbeiteten. Da wir beide zu Hause waren, gab es bei uns nicht diese typischen Rollenbilder vom arbeitenden Papa und der Mama, die zu Hause ist. Wir hatten das Glück und teilten uns immer die Rollen auf. Von dem her war dieser Schritt nicht so gross.
Immer zusammen zu sein, ist nicht immer leicht! Fünf Leute, mit fünf Meinungen – Das kann ganz schön nerven. Doch so viel gemeinsame und echte Familienzeit zu haben, ist ein unglaublich schönes Geschenk und gerade in der heutigen Zeit nicht selbstverständlich. Wir wissen das zu schätzen und sind uns bewusst, dass wir da sehr privilegiert sind.
Unterwegs ist es super! Zusammen Rad fahren und Zeit zusammen verbringen, ist ein Luxus. Wenn wir sehen, wie viel die Kinder sich bewegen, wie sie immer und überall Dinge (er-) finden, um zu spielen, den ganzen Tag etwas zu erzählen haben, fragen wir uns, wieso du Kinder die ganze Zeit in die Schule schickst. Ein anderes Thema, das wir hier nicht weiterverfolgen.
Ansonsten gestaltet sich unser Familienleben von harmonisch über lustig, zu traurig, bis zu harten Auseinandersetzungen. Ein Mix, wie auch zu Hause. Wenn wir streiten, können wir nicht fahren. Also haben Probleme Vorrang. Zum Glück finden wir immer wieder Lösungen und Wege, um weiterzufahren.

Was geniesst ihr auf eurer Reise mit Fahrrad durch Europa am meisten?

Es gibt nicht das Beste. Es ist der Mix aus allem, der das Beste ausmacht. Nur Fahrrad zu fahren wäre mit der Zeit zu langweilig. Nur in der wilden Natur zu sitzen, wäre es auch nicht. Deshalb ist es der Mix aus allem.
Und nicht zu vergessen: Europa bedeutet auf engem Raum viele verschiedene Kulturen, Sprachen, Menschen und Landschaften. Das macht Europa spannend und vielfältig. Für uns ist Europa für eine Fahrradreise einmalig und wir haben bis jetzt einen sehr kleinen Teil gesehen.

Wie viele Pannen hattet ihr nach euren 4000 Kilometern?

Mit Pannen sind wir gut davongekommen! Sechs Plattfüsse, davon vier am Anhänger. Da waren die Reifen einfach spröde und diese stacheligen Pflanzen im Süden hatten ein leichtes, da einzudringen.

Seit wir den Reifen gewechselt haben, sind wir wieder gut unterwegs. Andere Pannen am Material hatten wir bis jetzt nicht. Wir pumpen die Räder oft, kontrollieren diese alle 200 – 300 km und die Sicherheit ist uns wichtig. Wir tragen alle Warnwesten und die Kinder haben Fahnen am Rad. Wir haben gute und leichte Pyro Kinderfahrräder vom bikestop und von transbike, die sehr wartungsarm sind.
Ansonsten ging uns der Reissverschluss am Zelt kaputt, da schickte uns Hilleberg ein neues Zelt.
Stürze und Unfälle hatten wir auch schon. Stürze passierten vor allem am Anfang der Reise, beim Anhalten oder langsam fahren. Bei voller Fahrt ist glücklicherweise noch nie etwas passiert. Und ein Unfall hatte Lou, als sie mit der Ferse am Hinterrad ankam und ein Hautlappen abriss, der im Spital angenäht wurde. Wir klopfen auf Holz, dass es so weitergeht und nichts Gravierenderes passiert.
Wir müssen aber auch erwähnen, dass die Autofahrer von Nord-Süd unglaublich freundlich sind und nie überhastet oder unangenehm überholen oder vorbeifahren.

Per Mail habt ihr uns geschrieben, dass ihr nicht in euer altes Leben zurück wollt. Was meint ihr damit?

Nein, das stimmt so nicht. Unser «altes Leben» war super! Wir machten immer das, was wir wollten, lebten naturnah. Das ist und war gut so und möchten das auch so weiterführen.

Vielmehr meinen wir damit, dass wir auch in Zukunft vermehrt mit weniger Leben möchten. Lieber weniger Arbeiten, dafür mehr Zeit für eigene Ideen und Projekte oder Hobbys und Kinder. Geld braucht man. Aber nicht so viel, wie wir Schweizer das Gefühl haben, dass es nötig sei. Und die Kinder brauchen kein Tablet und Smartphone, sondern sie brauchen Eltern und viele andere Personen, die Zeit für sie haben, damit sie Vertrauen fassen und zu starken Kindern werden.

Letzte Frage: Was hält andere davon ab, eine Langzeitreise zu machen?

Mit 20 machen ganz viele eine Reise und ganz viele schwören, dass sie das auch später noch machen werden. Aber irgendwann ändert das. Es kommt ein Partner dazu, der vielleicht keine Lust dazu hat oder man hat grad einen gutbezahlten Job, man möchte dieses oder jenes Auto und dann ist da noch die Kreditfalle vom Hauskauf.
Sicherheiten gibt man ungerne auf und so schaut man lieber Blogs von anderen vor dem Bildschirm an und reist auf diese Weise mit, anstatt selber den Entschluss zu fassen. Das finden wir schade.

Es muss ja nicht mit dem Fahrrad sein! Wir treffen viele reisende Familien und da gibt es so viele Möglichkeiten: Camper, Housesitting, Interrail, Freiwilligenarbeit, Trampen.

Wir wissen noch nicht, wie lange unsere Reise geht, aber eins wissen wir: Wir werden immer wieder Fahrrad fahren, denn die Welt ist schön, die Menschen, die wir treffen, sind super und es gibt noch vieles mehr zu entdecken. Wir und die Kinder lieben es und lernen unglaublich viel dabei!

Mehr von der Familie Sauter-Menzi findest du auf durchtreten.ch.

FAMILIE METTLER