Mit Tochter auf Reisen

Ich erinnere mich noch gut. In Burgdorf fand das eidgenössische Schwing- und Älplerfest statt. In einer braven schweizer Familie gross geworden, leistete ich als Zivildienstleistender dort Einsatz. Bevor ich morgens das Haus verliess, sagte Mirjam zu mir: «Ich bin wieder schwanger.»

Bei Nathan, unserem ersten Kind, wurde ein Fragiles X-Syndrom diagnostiziert. Ein erblicher Gendefekt. Wir hatten alles in allem Glück. Nathan ist ein vergleichsweise einfaches Kind. Uns war bewusst, dass es schlimmere Beeinträchtigungen gibt. Er läuft, spricht, zieht sich grösstenteils alleine an.

Mirjam ist Trägerin des Fragilen-X-Syndroms und ein zweites Kind wäre unter Umständen stärker beeinträchtigt, als Nathan.

Familienplanung

Darum führten Mirjam und ich viele Diskussionen. Zum einen war ich kein Fan vom Konzept Einzelkind. Auf der anderen Seite ist es keine gute Idee, das Schicksal herauszufordern. Ich war entschlossen: Wir bekommen kein zweites Kind. Ich setzte einen Haken hinter die Sache. Und Mirjam brach es das Herz.

Sie informierte sich über Pränataldiagnostik und andere Methoden. Ich mich über Vasektomie. Und während wir uns informierten, passierte der Unfall, der mich an diesem Morgen schockierte.

Zum Glück war ich aufgrund meines Einsatzes am Schwingfest sofort wieder abgelenkt und vergass die Neuigkeit kurzerhand im Trubel. Und ein paar Tage später erholte ich mich von dem Schock und mir wurden zwei Dinge klar:
Erstens leben wir in einer privilegierten Situation und sind fähig ein schwierigeres Kind grosszuziehen.
Und zweitens bin ich ein Optimist.

Diagnose: Fragiles-X-Syndrom

Neun Monate später kam Elea auf die Welt. Ein gesundes, bildschönes Mädchen. Wie bei Nathan war am Anfang alles gut. Nach einem halben Jahr der Befund: Elea hat den Gendefekt Fragiles-X-Syndrom. An dem Tag, als die Diagnose kam, sass Elea das erste Mal alleine aufrecht. Und von Monat zu Monat entwickelte sie sich weiterhin wie ein ganz normales Kind.

Durch Nathan waren wir daran gewöhnt, dass sich ein Kind etwas langsamer entwickelt. Hier und da überholte sie Nathan in der Entwicklung. Mit zwei Jahren erklomm sie Klettergerüste und balancierte mit sicherem Fuss über Hängebrücken. Etwas das Nathan bis heute Mühe bereitet.

Beide sind einzigartig

Unsere beiden Nachwuchs-Charaktere sind komplett unterschiedlich. Elea ist ein selbstbewusster Wirbelwind, der frei und unabhängig die Umwelt erkundet.  Das ist die diplomatische Umschreibung. Das Mädchen hat einen sturen und eigenwilligen Kopf.

Von der Natur mit blauen Augen und Schmollmund beschenkt und um kein Register der Manipulation bescheiden.

Manche sagen, die Tochter ist ein bisschen wie der Papa. Macht das, was ihr passt und interessiert sich nicht gross dafür, was andere sagen oder denken.

Meine Tochter ist zäh, anpassungsfähig und beschäftigt sich stundenlang allein. Eine Weltreise mit einem Kind wie Elea zu machen, passt wie die Faust auf das Auge.

Stur, aber feinfühlig

In ihr steckt ein extrem feinfühliger Kern, welcher bei einem robusten Charakter wie ihr, gerne übersehen wird. Ihr ist es wichtig, dass es Ihrem Umfeld gut geht. Sie sorgt sich um ihren Bruder. Holt den Hund aus dem Zimmer, wenn er jault. Macht abrupt eine Kehrtwende, wenn bei Mama eine Träne der Verzweiflung fliesst, weil ihre Tochter nicht auf sie hört.

Elea ist stark. Und starke Kinder gehen gerne vergessen. Nathan braucht viel Aufmerksamkeit und Einfühlungsvermögen. Elea darf deshalb nicht untergehen. Insbesondere, wenn wir als Familie auf Weltreise sind.

Suche nach Elea

Und glaubt mir, das kam vor. Eine Story: Ich war mit Nathan beschäftigt, Mirjam mit der Küche und auf einmal wusste auf die Frage «wo ist Elea?» niemand eine Antwort. Ich wusste es nicht, Mirjam wusste es nicht.

Wir fingen an zu suchen. Im Haus. Draussen im Garten. Auf der Strasse. Beim Restaurant gegenüber. Überall. Und wir riefen im Akkord, laut und nachdrücklich. Kein einziges Mäuschen piepste zurück. Elea war nirgends.

Es verstrichen 15 Minuten. Eine halbe Stunde. Mirjam rief die Polizei an, während ich meine Suche wieder wieder von vorne startete. Im Haus. Im Garten. Nochmal im Haus. Nochmal im Kinderzimmer.

Und da war sie. Sie kroch unter der Decke hervor und sagte. «Halloooooooo.» 

Sie war im Bett. Die ganze Zeit. Dann als Mirjam im Kinderzimmer stand und sich die Kehle aus dem Leib schrie. Sie hörte, wie wir verzweifelt nach ihr riefen. Egal, sie lag seelenruhig unter der Decke und hörte dem Treiben zu. Sie beendete das Spiel nach ihren Regeln und blieb von dem ganzen Drama ungetrübt.

Heute wissen wir immerhin wo sie ist

Sie läuft uns bis heute immer mal wieder davon. Sie reagiert nicht, wenn wenn wir sie rufen. Eins weiss ich heute: Elea wird das immer wieder machen. Weil sie sich frei fühlt und sicher. Ganz ohne Mama oder Papa im Blickfeld. Sie ist nicht verunsichert, wenn wir sie ermahnen und fürchtet die Welt da draussen nicht. Sie ist darauf bedacht, dass es uns geht.

Und ihrer Mama zuliebe, ist sie mittlerweile zumindest so freundlich, laut zurückzurufen: «Ich bin hier.» Selbst wenn sie dann nicht kommt. Wir wissen wenigstens, wo sie ist. Und das ist fair.

Elea, du gehst mit deiner Familie auf Weltreise. Ich hoffe, dass du Spass hast, dass du viel lernst und dass ich dir immer ein akzeptabler Daddy bin.

FAMILIE METTLER