Wir brachen vor rund zwei Jahren alle unsere Zelte ab und wollten die Welt bereisen. Darum beschlossen wir damals – im Sinne des Zwecks – all unseren unnötigen Ballast loszuwerden. Wir reduzierten unseren kompletten Besitz auf den Inhalt von vier Fahrradtaschen. Und wir sind heute noch überzeugte Minimalisten.
Radikal auszumisten war eine Tortur. Und das, obwohl wir nie einen Hang zum Anhäufen von Krempel hatten. Ich weiss noch, wie wir einmal lachend unsere Nachbarn beobachteten, die vier Tage lang einen Umzugs-Marathon veranstalteten. Ein Marathon, vollzogen von rund 80 Lastwagen, die ihren Krempel anschleppten.
Obwohl uns damals ein einziger Lastwagen für einen Umzug gereicht hätte, waren wir – im Vergleich zu dem, was wir heute besitzen – ein Messi-Haushalt.
Bevor ich Michael kennenlernte, hatte ich den Hang dazu Dinge anzuhäufen und schön – ausserhalb meiner Sichtweite – vor sich hin stauben zu lassen.
Aus meinem Schrank quellten tausend schöner Sachen. Was keinen Platz mehr hatte, verbannte ich unter das Bett.
Der Junggeselle, der Michael damals war, hatte Bett, Kommode und Sofa. Nach den Möbeln kam nicht viel mehr. Ein Fernseher. Ein überschaubares Repertoire an Kleidern. Kaum Erinnerungsstücke oder Geschenke. Keine Zimmerblumen. Keine kitschigen Geschenke, die an verflossene Freunde erinnern.
Nichts von all dem, was ich in meinem eigenen Zimmer hortete. Michael steckte mich mit seinem Minimalismus an. Weil ich mich in seinem Zimmer wohler fühlte, als in meinem eigenen. Denn er besass weniger Ballast und Krimskrams, das mich emotional überrollte.
Ich verkaufte also das meiste unseres Haushalts, um Geld für unsere Reise zu sammeln.
Als ich unseren Besitz aus seinen Verstecken hervorholte, taten sich Abgründe auf. Abgründe aus Kram und Plunder und Dingen. Das zu ordnen und sich von Lieblingsstücken zu trennen, war nicht nur ein zeitlicher, sondern auch ein emotionaler Aufwand.
Damals unterteilte ich meinen Besitz in drei Kategorien:
Ich arbeitete mich Schritt für Schritt nach vorne, indem ich in einem Zimmer einen überschaubaren Haufen ansammelte. 2% davon landeten in der Ecke für die Kategorie «mitnehmen». Etwa 1% landete auf dem Haufen für die Kategorie «zwischenlagern». Und der Rest wurde in die ewigen Jagdgründe verbannt – dazu gleich mehr.
Da wir eine Fahrradreise planten, war das mit dem Mitnehmen ein Fall für sich. Sprich: Alles, was wir mitnahmen, passte in vier schmale Fahrradtaschen. Wir misteten nach dem Prinzip der Pragmatik aus. Das Ergebnis: Ich machte mit meinem Kleiderschrank kurzen Prozess und reduzierte ihn auf 34 Teile. Inklusive Unterhosen und Socken. Michael besass sogar nur noch 30 Kleidungsstücke. Ebenfalls inklusive Unterhosen und Socken.
Die zweite Kategorie, das Zwischenlagern, war nicht viel einfacher. Viele Freunde boten mir an, meine Sachen bei ihnen unterzubringen. Das war verlockend. Der Nachteil: Wir wären weiterhin für sie verantwortlich – spätestens nach unserer Rückkehr. Das würde bedeuten: Wir bräuchten einen Überblick darüber, bei wem, wir was zwischenlagern.
Wir bewahrten nur unsere wertvollsten Erinnerungsstücke und wichtige Dokumente auf. Erinnerungsstücke, die wir aufbewahrten:
Dokumente, die wir aufbewahrten:
Beispielsweise Nathans Geburtsarmband. Oder Eleas erste Socken. Nicht etwa Fotoalben, von denen wir die Bilder auf Google Drive gespeichert haben. Keine Dekorationsartikel, die aus Fliessbändern stammen.
Das sind Dokumente, wie Geburtsschein oder Heimatschein.
Unser Ehebett ist aus Echtholz. Wäre schön das aufzubewahren – nur wo? Wir verschenkten es deshalb schweren Herzens.
Das ist der kniffligste Teil. Wir neigen dazu uns schnell einzureden, dass etwas von unglaublicher Bedeutung ist. Trennen wir die Spreu vom Weizen, dann – siehe da: Von echter Bedeutung sind nur wenige Sachen.
Nun zur heikelsten Kategorie: Dem ewigen Lebewohl. Dem Wegschmeissen.
Sachen loszuwerden, kann schmerzvoll sein. Mir half die Aussicht auf unsere bevorstehende Reise. Die berühmte Ausmisten-Expertin Marie Kondo rät sich darauf zu fokussieren, was Freude bringt – «spark joy» (so hat sie auch eines ihrer Bücher benamst). Radikal ausmisten bedeutet, sich neu zu orientieren. Auf das, was jetzt – in der Gegenwart – Freude macht. Sie empfiehlt jedes einzelne Stück, das man besitzt, in die Hand zu nehmen und sich zu fragen: «Macht mich das glücklich?»
Sind wir ehrlich zu uns selbst, macht uns 99 % dessen, was wir besitzen, nicht wirklich glücklich.
Ich bin kein Fan von systematischem Vorgehen. Ohne wird es hier schwierig. Nach welchen Kriterien mistest du aus? Was lagerst du ein? Und wie behältst du den Überblick? Es hilft Sachen, die wegkommen, früh genug an einem bestimmten Ort zu lagern.
Den Haushalt aufzulösen, zwingt dich eine Antwort auf die Frage zu finden, was du wirklich brauchst.
Das ist, finde ich, die beste Variante überhaupt. Wenn jemand deiner Freunde oder jemand aus deiner Familie etwas von deinem Hausrat gebrauchen kann, ist es ein schönes Gefühl zu wissen, dass es an einem anderen Ort «weiter lebt».
Fokussier dich auf das was kommt, nicht darauf, was war. Die Sachen, an denen du lange Freude hattest, räumen den Platz für etwas, woran du viel mehr Freude haben wirst.
Tief in mir lebt ein gefühlsduseliger Materialist. Ich glaube daran, dass die Sachen traurig sind, wenn sie im Müll landen. Oder dass ich sie eines schönen Tages ganz, ganz dringend brauchen werde. Beides Lügen, die dazu führen, dass ich auf lange Sicht zu viel besitze, das mein Leben verkompliziert.
Beim radikalen Ausmisten wurde ich endlich Schuhe los, die mir nie richtig passten. Oder Spielzeuge, die halb zerkaut und nie benutzt in verstaubten Ecken lagen. Die letzten Jahre hatte ich keinen Grund, das auszumisten. Vor unserer Ausreise hatte ich endlich einen.
Bei meinen Kindern lief das radikale Ausmisten anders: Sie machten das nicht freiwillig. Mama entschied quasi über ihren Kopf hinweg, dass sie auf der Reise viel bessere Sachen zum Spielen haben werden. Und Mama sorgte dafür, dass sie – abgesehen von ein paar Sachen, die während dem Flug als Beschäftigung dienten – alle Spielsachen zurückliessen.
Meine Kinder zeigten sich wenig einsichtig und weckten in mir viele Zweifel. Darf ich ihnen einfach das Spielzeug wegnehmen? Wohlwissend, dass sie schon seit Monaten nicht mehr damit gespielt haben?
Ich startete den Versuch gemeinsam mit Nathan auszumisten. Jedes seit Jahrhunderten nicht benutzte Spielzeug, nahmen wir unter die Lupe. Ich fragte Nathan: «Behalten, verkaufen oder in den Müll damit?»
Seine Antwort war bei jedem einzelnen Spielzeug dieselbe: «Behalten!»
Egal, ob kaputtes Auto oder zerkauter Buntstift. Argumente wie «du spielst eh nicht damit» oder «auf der Reise nimmt das nur Platz weg», waren ähnlich wirkungsvoll, wie einem Kind davon zu erzählen, welche tollen Mineralstoffe und Vitamine Spinat enthält.
Zerkaute Bleistifte wegzuwerfen konnte ich mit meinem Gewissen vereinbaren. Aber es war hart, die Sachen wegzugeben, mit denen Nathan und Elea wirklich gerne spielten.
Elea war täglich am Puppenhaus anzutreffen. Nathan reihte Autos zu einem Stau aneinander, errichtete schwindelerregend hohe Legotürme und liebte Puzzle.
Was mir das Wegwerfen erleichterte: Nathan liebt es zu kochen, zu helfen, zu werken. Das zu tun, was die Grossen tun. Ich wusste, dass die Reise dafür viele Gelegenheiten bieten würde. Mit Papa gemeinsam den Grill anschmeissen und Mama einen Kaffee zu kochen. Er fuhr Fahrrad, lernte eine neue Sprache, sah und erlebte vieles auf Reisen.
Auch Elea: Sie liebte es sich zu verkleiden, sich zu schminken, zu tanzen, zu singen. In dieser Hinsicht bot Lateinamerika die ein oder andere Gelegenheit. Im tiefen Dschungel, schmierte sie sich alternativ rote Beerenfarbe auf die Lippen. Das kompensierte die fehlenden Spielsachen allemal.
Uns blieb nichts Anderes übrig, als auch ihre Lieblingsspielsachen zu entsorgen, da wir nur Reisegepäck behalten konnten.
Heute – nach der Reise – habe ich bei den Kindern zwei, gut funktionierende Regeln:
Als wir nach Europa zurückkehrten – mit unseren vier Fahradtaschen – begann sich unser Lifestyle allmählich zu ändern. Aber die Erfahrung vom radikalen Ausmisten vor unserer Reise hallt noch immer nach. Die Befreiung tat so gut, dass wir uns heute sehr viel einfacher von Sachen trennen können. Und das auch regelmässig tun.
Das, was wir besitzen, darf heute Teil unserer Reise sein. Wir wollen uns auch weiterhin vorwärtsbewegen – und zwar mit Sachen, die uns Freude machen.